Die Familienheim-Siedlung bei den Wiehre-Bahnhöfen
Im Juni vergangenen Jahres wurden Pläne der Baugenossenschaft „Familienheim“ bekannt, das Wohnquartier beim Bahnhof Wiehre zu modernisieren. Insbesondere das im September angekündigte Vorhaben, den Häuserblock Quäkerstraße 1 – 9 abzureißen, sorgt seither nicht nur in der Wiehre für viel Aufregung. Die Bewohner*innen-Initiative „Wiehre für alle“ möchte die Häuser erhalten und verweist wie der Gestaltungsbeirat der Stadt Freiburg auf den besonderen Wert des gesamten Ensembles mit über 300 Wohnungen. Doch was zeichnet die Siedlung aus, und in welchem Kontext ist sie entstanden?
Entstehung und Zielsetzung der „Familienheim“-Genossenschaften
Die badischen Baugenossenschaften „Familienheim“ gehen auf eine Idee der Katholischen Kirche zurück: Unter dem Eindruck der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auf Initiative des Erzbischöflichen Ordinariats Freiburg in allen Kreisen Badens rechtlich selbstständige Baugenossenschaften unter dem Namen „Neue Heimat“ gegründet. Auf Diözesanebene schlossen sich diese zum „Siedlungswerk Neue Heimat Baden“ zusammen. Die Kirche wollte damit ein Pendant zu den bereits bestehenden großen, nichtkirchlichen Genossenschaften wie etwa der gewerkschaftseigenen „Neuen Heimat“ schaffen und betrachtete die Bereitstellung günstigen Wohnraums für einkommensschwache Familien als eine notwendige Konsequenz aus den Forderungen der christlichen Soziallehre. Noch heute stehen die 24 eingetragenen, inzwischen unter dem Begriff „Familienheim“ firmierenden Baugenossenschaften unter dem Dach des „Siedlungswerk Baden e.V.“.
Die „Familienheim Freiburg“ spielte bei dieser Entwicklung eine Vorreiterrolle: Inspiriert von den während eines 1929 in Freiburg abgehaltenen Katholikentags formulierten Werten hatten im Jahre 1930 kirchliche Würdenträger die Gründung einer Baugenossenschaft „Familienheim Freiburg“ initiiert. Noch im selben Jahr wurde mit dem Bau einer Wohnanlage im Bereich Rennweg/Komturstraße begonnen; 1931 folgte die „St.Josephs-Siedlung“ im Mooswald. In der Gründungssatzung sah die Genossenschaft ihre Hauptaufgabe darin, „Minderbemittelten gesunde und zweckmäßig eingerichtete Kleinwohnungen in eigens erbauten oder angekauften Häusern zu billigen Preisen zu verschaffen“.
Zur Baugeschichte der Wiehre-Siedlung
Das Gebiet der heutigen Familienheim-Siedlung bestand ursprünglich aus landwirtschaftlicher Nutzfläche des Gewanns „Oberfeld“ in der nur dünn besiedelten südlichen Wiehre. Noch im Stadtplan von 1920 sind an der Stelle kleinparzellierte Felder und Äcker verzeichnet. Nach Fertigstellung der genannten Gründungsprojekte begann die „Familienheim Freiburg“ in den 1930er Jahren mit der Planung des Wiehre-Quartiers. Dabei entstand die noch heute bestehende Straßenstruktur, teils mit abweichenden Straßenbezeichnungen.
In einem ersten Bauabschnitt wurden 1938 in unmittelbarer Nähe zum 1934 eröffneten neuen Bahnhof Wiehre die Wohnblocks Roseggerstr. 11 – 17 (damals Maikowskistr.) sowie Türkenlouisstr. 45 – 47 fertiggestellt. Der Krieg stoppte zunächst die Weiterführung des Projektes, doch im Jahre 1950 wurden die Arbeiten wieder aufgenommen.
Die bis 1952 errichteten Bauten sind nach den Plänen von 1938 gebaut und orientieren sich gestalterisch an der konservativen Architektur der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Erst in den wenigen ab 1953 errichteten Gebäuden lässt sich eine für die Architektur der 1950er Jahre typische Formensprache ablesen.
Architektur, Bedeutung und Besonderheiten
Die Familienheim-Siedlung besteht überwiegend aus langgezogenen, im Siedlungscharakter erstellten Gebäuderiegeln, in denen jeweils mehrere Hauseinheiten zusammengefasst sind. Die Gebäude verfügen durchgängig über drei Vollgeschosse sowie teils ausgebaute Dachgeschosse. In die an den Schmalseiten gewalmten Dächer sind einheitliche Gauben eingefügt. Die Architektur ist durch Schlichtheit und Funktionalität geprägt und steht damit in der weiterführenden Tradition der in Freiburg tätigen Architekten und Städteplaner Karl Gruber und Joseph Schlippe, die sich bereits in den 1920er Jahren für eine einfache, an die Baukunst „um 1800“ angelehnte architektonische Formensprache bei Neubauten eingesetzt hatten. Außer am Blockrand sind die Gebäuderiegel durch breite Vorgärten vom Straßenraum abgesetzt. Die Innenhöfe zeichnen sich durch großzügige Rasenflächen aus. Die Siedlung ist klar strukturiert; Grünflächen mit alten Baumbeständen und Bebauung erscheinen in ihrer Ausdehnung und Anordnung harmonisch aufeinander abgestimmt.
Die Innenhofgärten, die in früherer Zeit als Versorgergärten dienten, weisen heute eine über Jahre gewachsene Nutzungsstruktur auf. Entgegen moderneren Raumnutzungskonzepten weisen sie keine Parzellierung durch Hecken oder Sichtschutzwände um Erdgeschosswohnungen auf, sondern belassen Möglichkeiten zur selbstorganisierten gemeinschaftlichen Nutzung. Die für alle Bewohner*innen offenen Bereiche bieten Raum für Begegnung, Austausch und darauf aufbauende Unterstützungsformen wie beispielsweise in der Kinderbetreuung. Diese Sozialfunktion genossenschaftlicher Wohnanlagen trug dazu bei, dass die Genossenschaftsidee als Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation und kooperativen Selbsthilfe 2016 in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde.
Eine Besonderheit des Quartiers stellt die genossenschaftseigene Ladenzeile am Nordrand des Gerwigplatzes dar. Ladenzeilen dieser Art waren eine typische Zeiterscheinung der 1930er- und 1950er-Jahre und sollten die Grundversorgung im Bereich größerer Wohnsiedlungen sichern. Dass die Geschäftszeile am Gerwigplatz nur mit wenigen Abweichungen bis heute überdauert hat und weiterhin „funktioniert“, dürfte in Freiburg und darüber hinaus ein Unikum sein. Erwähnenswert ist ferner, dass man bei der Entscheidung zur Errichtung der Siedlung offenbar bewusst darauf verzichtet hat, das vorhandene wirtschaftliche Entwicklungspotenzial des schon damals attraktiven, zentrumsnahen und „gehobenen“ Stadtteils Wiehre voll auszuschöpfen. Vielmehr wurde hier einer großen Zahl finanzschwacher Wohnungssuchenden ein Wohnumfeld geboten, dass ihnen unter normalen Umständen verschlossen geblieben wäre.
Zukunft der Anlage
Eine Studie der Wüstenrot-Stiftung betont den heutigen Wert der in der Nachkriegszeit errichteten Quartiere gerade angesichts exorbitant steigender Mietpreise: Sie gehörten zu den wenigen verbliebenen Wohngebieten, die bis heute preiswertes und zentrumsnahes Wohnen ermöglichen. Ein „Update“ auf aktuelle Standards – sei es durch Neubau oder durch massive Sanierung – berge immer die Gefahr, dass sich durch steigende Mieten die Sozialstruktur der Quartiere deutlich verändere. Auch seien diese Quartiere ein wichtiger Teil des baukulturellen Erbes ihrer Entstehungszeit.
Ähnlich beschreibt es auch der Gestaltungsbeirat der Stadt Freiburg, der sich mit dem konkreten „Fall“ in der Wiehre befasst hat: Nach einer Ortsbegehung am 30.11.17 und einem Gespräch mit dem Familienheim-Vorstand empfahl das unabhängige Expertengremium, auf den geplanten Abriss zu verzichten. Das Quartier besitze eine gewachsene Identität, die es im Rahmen einer behutsamen Sanierung zu erhalten gelte.
Joachim Scheck
Zum Autor:
Joachim Scheck ist Geschäftsführer des Vereins VISTAtour – Stadtführungen und Autor der BZ-Serie „Wiedersehen“ sowie weiterer Publikationen über Freiburg. Er befasst sich mit der Dokumentation von Stadtbildveränderungen und engagiert sich in der ARGE Freiburger Stadtbild, die sich für den Erhalt historischer Bauten einsetzt.