Ein Renaissanceschloss für das Handwerk
– 110 Jahre Gewerbeschule an der Kirchstraße
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UNTERWIEHRE. Vor 100 Jahren, im September 1905, wurde das neue Gewerbeschulgebäude an der Kirchstraße eröffnet. Zusammen mit der romanisch/frühgotischen Johanneskirche (Josef Durm, 1895/99), dem spätgotischen Pfarrhaus (Durm und Joseph Graf, 1903) und der klassizistischen Lessingschule (Karl Müller 1885/86) bildet das mächtige Gebäude eines der interessantesten architektonischen Ensembles des Historismus in Südbaden. Dank einer umfassenden, noch nicht ganz abgeschlossenen Instandsetzung hat die als Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung gelistete Schule in den letzten Jahren viel von ihrem alten Glanz zurückerhalten.
Bis zum Bezug des Neubaus hatte die städtische Gewerbeschule schon einige Standortwechsel erlebt. Das Großherzogtum Baden hatte 1834 die Einrichtung von Gewerblichen Schulen im ganzen Land angeordnet. Die Entwicklung des Handwerks nach der Auflösung des alten Zunftwesens und die zunehmende Industrialisierung des Landes hatten den Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften steigen lassen. Schon drei Jahre später gab es in Freiburg eine erste Klasse mit 280 Schülern. Die Unterrichtsräume befanden sich im Westflügel des heutigen Augustinermuseums zum Augustinerplatz (damals „Theaterplatz”) in der  „Bürgerlichen Kaserne”, die mit Mitteln der Beurbarungsgesellschaft im ehemaligen Kloster der Augustinereremiten eingerichtet worden war. Der theoretische Unterricht fand in der ehemaligen Knabenschule an der Herrenstraße statt. Seit 1843 nutzte die Gewerbeschule das ehemalige Breisacher Tor an der Rempartstraße. Von 1876 bis 1896 belegte die Schule einen Flügel in der Oberrealschule (späteres Rotteckgymnasium). Die Raumnot blieb ein beherrschendes Thema, und 1889 wurde der Antrag auf einen Neubau gestellt, der 1891 im Grundsatz beschlossen wurde. 1896 wurde die Schule in die Rempartkaserne an der Südwestecke der Altstadt verlegt, deren Abriß allerdings absehbar war, denn hier lag der künftige Bauplatz des neuen Kollegienhauses der Universität (heutiges KG I). Das Gelände für eine neue Gewerbeschule war schon 1892 ausgewählt worden: das freie Gelände an der Kirchstraße hinter der neu erbauten Johanneskirche. 1900 erging der Auftrag an das Hochbauamt, Ende 1901 lagen die ersten Entwürfe und eine Kostenberechnung vor.
Am 11. Juli 1902 stimmte der Bürgerausschuss der von Oberbürgermeister Otto Winterer eingebrachten Vorlage zu, die einen Neubau für 910.000,- Mark vorsah (nach heutiger Kaufkraft ca. 55 Mio Euro). Im November 1902 wurde mit dem Aushub der Baugrube begonnen. Architekten des Baus waren Stadtbaumeister Rudolf Thoma als Vorstand des Hochbauamtes und Stadtarchitekt Matthias Stammnitz, ein bewährtes Team, das an vielen Bauten jener Jahre beteiligt war, etwa beim Neuen Rathaus und beim Hauptfriedhof. Die Fassade orientierte sich an Schlossbauten der deutschen Renaissance wie Heidelberg, Weikersheim und Aschaffenburg. Der Bau kam sehr rasch voran, sicher auch wegen des Drucks der Universität, die ihren 1902 in einem Wettbewerb ermittelten Neubau auf dem Gelände der Rempartkaserne baldmöglich beginnen wollte. Schon im November 1904 konnte das Richtfest gefeiert werden und kein Jahr später war die neue Gewerbeschule vollendet und wurde im September 1905 eingeweiht. Die Kosten waren um moderate 15 Prozent überschritten worden.
Das Freiburger Gewerbeschulgebäude galt bei seiner Eröffnung als eines der modernsten seiner Art. Werkstätten, Ateliers und Unterrichtsräume waren auf dem neuesten technischen Stand. Die Details der Architektur, der künstlerischen Gestaltung und der technischen Ausführung im Äußeren wie im Inneren boten den Lehrlingen und Schülern der Bau- und Kunstgewerke praktischen Anschauungsunterricht. Es finden sich alle Arten von Wandgestaltung, Bodenbelägen, Treppenkonstruktionen in Holz, Metall und Stein, Decken und anderes mehr. Den Giebel der Fassadenmitte krönt (wieder) ein kupfergetriebener Handwerksgeselle, Wandmalereien und Mosaiken zeigen unter anderem das Stadtwappen und den preußischen Adler, den Werdegang eines ritterlichen Knappen und – in Sgraffito (Kratztechnik) ausgeführte Bilder von Handwerkern. Künstlerbüsten in Stein und Majolika zieren die Fassade, darunter der Nürnberger Maler Albrecht Dürer, Schuhmacher und Meistersinger Hans Sachs, der Freiburger Münsterbaumeister Hans Böhringer und der Architekt Matthias Stammnitz selber, dessen Büste den zum „Ehrenhof” gerichteten Erker des Südflügels trägt. Die meisten Skulpturen schuf der Freiburger Bildhauer Julius Seitz.
Die Schule trägt seit 1987 den Namen der Freiburger Ehrenbürgerin Gertrud Luckner. Direktion und Verwaltung befinden sich heute in den ab 1979 errichteten Neubauten an der Bissierstraße. Im historischen Gebäude werden noch die Klassen des zweiten Bildungsweges, des dreijährigen Berufskollegs Grafik/Design und der Fachgruppe Zahnmedizinische Fachangestellte unterrichtet.
Peter Kalchthaler
Erschienen in der Reihe „Wiedersehen”
– BZ vom 26. Oktober 2015