Die zwei Bürgervereine der Wiehre feierten ihren gemeinsamen Geburtstag und wurden für ihr Engagement hoch gelobt, denn: Eine Zuschauer-Demokratie funktioniert nicht!

Um zu verstehen, welch fundamentale Bedeutung die Gründung von Freiburgs erstem Bürgerverein im Jahre 1875 hatte, stellte als Festredner Prof. Dr. Ulrich Eith eindrücklich dar, dass gerade die Diskussion der Interessengruppen untereinander eine zwingend notwendige Voraussetzung für eine Demokratie ist. So seien Bürgervereine ein Zeichen gesunder demokratischer Strukturen und könnten uns damit vor dem Verlust der individuellen Freiheiten bewahren.

Mahnend zeigte der Professor der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg und Direktor des Studienhauses Wiesneck in Buchenbach die Ergebnisse soziologischer Studien auf: Nur 10–15 % der Bürgerinnen und Bürger sind zu solch einem Engagement bereit. Die aktuell unruhigen Zeiten überfordern den Einzelnen oft, und das bereitet den Populisten das Feld. Demokratie habe nämlich keine Ewigkeitsgarantie, wenn die Voraussetzungen nicht in der Bürgerschaft gelebt werden. In Bürgervereinen sei es dagegen möglich, Vertrauen in die Demokratie aufzubauen und politische Selbstwirksamkeit zu erleben. Seine Appelle waren deutlich: Kein Rückzug ins Private, Widersprüchlichkeiten aushalten, Diskurs üben!

Seine zentrale Aussage war: Demokratie ist zwar langsam und mühsam, oft auch frustrierend, aber sie sichert die individuellen Freiheiten im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit, wenn das Grundprinzip gewahrt wird: Gepaart mit Respekt und Toleranz ist jeder für sein eigenes Tun verantwortlich!

Zuvor hatten Oberbürgermeister Martin Horn und die Vertreterinnen der Vereine Oberwiehre-Waldsee-Oberau sowie Mittel- und Unterwiehre, Beatrix Tappeser und Loretta Lorenz, die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Vereinsgründung durch den Bauunternehmer und Stadtrat Karl Walterspiel aufleben lassen: Nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870–71) hatte Freiburg nahe der Grenze zu Frankreich eine deutliche Aufwertung erfahren und war ein begehrtes Ziel wohlhabender Bürger aus anderen Großstädten, in denen gerade die Cholera grassiert hatte. Freiburg war verschont geblieben und galt u.a. wegen seiner Bächle schon lange als „sufer und glatt“. Die Wiehre war in weiten Teilen landwirtschaftlich genutztes Vorland, das sich zur Ansiedlung der Neubürger anbot. Während in der Kernstadt damals nicht mehr als 35.000 Einwohner wohnten, wuchs die Wiehre schnell zu einer vergleichbaren Größe heran.

Während Deutschland noch von Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Bismarck regiert wurde und Frauen noch kein Wahlrecht hatten, bot der erste Bürgerverein den zugezogenen Neubürgern Freiburgs eine Interessenvertretung, als ob Deutschland bereits eine demokratische Verfassung hätte. Tatsächlich aber war die Staatsform eine konstitutionelle Monarchie. Das Deutsche Kaiserreich war erst am 01. Januar 1871 gegründet worden.

Hätte unser Vereinsgründer Karl Walterspiel sich 1875 vorstellen können, dass 150 Jahre später zwei Frauen aus den Vorständen der heutigen Vereine die über 200 erschienenen Mitglieder zum Festakt in der guten Stube Freiburgs, dem Kaisersaal des Historischen Kaufhauses, begrüßen würden?

Die zahlreich erschienenen Mitglieder empfanden die Einordnung in Freiburgs Geschichte und die Bewertung der politischen Zusammenhänge in Anbetracht der Beispiele autokratisch-nationaler Tendenzen in und um Deutschland als treffend aktuell. Sie nahmen es in diesem Sinne als Lob und Anerkennung ihres bürgerschaftlichen Engagements und damit als willkommenes Geschenk zum 150-jährigen Jubiläum. Derart bestärkt und getragen von dem durch das Ensemble Marmelade meisterlich vorgetragenen Melodienreigen schritt man in anregenden Gesprächen zu Sekt und feinsten Canapés.

Jürgen Bolder