Seit nunmehr fünf Jahren existiert die Flüchtlingsinitiative Schlierberg, über die der Bürgerverein v.a. in den Anfängen regelmäßig berichtet hat. Nun fragten wir den Koordinator Karl-Hans Jauß, welche Auswirkungen Corona im vergangenen Jahr auf die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe in der Merzhauser Straße hatte:
Ab Oktober 2020 galt ein harter Lockdown, in der Unterkunft war keine ehrenamtliche Unterstützung mehr möglich. Die Geflüchteten selbst waren die ganze Zeit sehr vorsichtig und hielten sich an die Coronaregeln. Als es Ende Januar zu einer Lockerung der Regeln kam, beschlossen wir ab März wieder mit der Lernhilfe zu beginnen, jedoch war die Betreuung nur noch in einer 1:1-Situation möglich. Die Kinder lernen seither 1,5 Stunden mit Maske und sind eifrig dabei, Tische und Hände zu desinfizieren. Es fiel uns aber auf, dass die Kinder während der Zwangspause viel verlernt hatten. Auffällig war auch, dass viele Probleme hatten, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Wir sahen, dass die Kinder sich freuten, wenn sie beim Lernen wieder etwas verstanden. Sie kamen an den zwei Nachmittagen gerne. Natürlich war es auch ein Anreiz, dass wir am Ende des Nachmittags ausreichend Zeit für Spiele (z.B. Memory) einplanten
BV: Eine 1:1-Lernsituation statt Nachhilfe – eine solche Einzelförderung kann man sich doch für benachteiligte Kinder nur wünschen, oder?
Die 1:1-Situation wirkte sich tatsächlich sehr positiv aus. Die Verbindlichkeit des Lernangebots wurde von den Kindern stärker als früher wahrgenommen, das Lernen am Nachmittag wurde zur Selbstverständlichkeit.
Auf ein Kind, einen Erstklässler, möchte ich hier speziell hinweisen. Er war zu Schulbeginn sehr engagiert und forderte die Lernhilfe geradezu ein. Nach dem langen Lockdown erschien er müde, langsam, kaum zu einer Aktivität zu bewegen. Da wir ihn anders kannten, wussten, dass er ein guter Schüler sein kann, beschäftigte uns das sehr. Ihm und uns ist es dann gelungen, sein Engagement zurückzugewinnen. Seine Versetzung in die zweite Klasse war ein schöner Erfolg für uns alle.
BV: Wie lief denn in dieser Zeit die Kooperation und Kommunikation mit den Schulen?
Im Juli wurden wir über eine Schule gebeten, mit zwei ihrer Schüler*innen zu lernen. Dies war im Rahmen unserer Ferienschule gut möglich. Jede Woche in den großen Ferien
trafen wir uns an zwei Vormittagen, um zu rechnen, Deutsch zu lernen und zu lesen. Für die Kinder war das eine willkommene Abwechslung. Wir hatten schöne, bunte Arbeitsblätter für jedes Lernniveau, so dass mit Geduld immer ein Erfolg erzielt wurde. Es tauchten sogar Kinder auf, mit denen wir vor Jahren gelernt hatten, die früher lieber Quatsch gemacht hatten. Jetzt aber lernten sie, und waren stolz, uns zu zeigen, was sie schon konnten. Die Ferien waren für Kinder, Helferinnen und Helfer ein schönes Erlebnis, da das Lernen in einer entspannten Atmosphäre stattfand. Die Kinder freuten sich über ihr Können. Besonders hat uns die Rückmeldung einer Schule beeindruckt. Sie sagten uns, dass die Kinder, die bei uns waren, über die Ferien überraschenderweise nichts verlernt hätten und sich im laufenden Schuljahr auf besonders positive Weise in den Unterricht einbringen würden.
BV: So viel zu den Kindern, die von Ihrer ehrenamtlichen Unterstützung offensichtlich gerade in diesen schwierigen Zeiten profitiert haben. Lässt sich Ähnliches auch von deren Eltern oder anderen Erwachsenen im Flüchtlingswohnheim sagen?
Auch mit den Erwachsenen haben wir weiterhin gearbeitet. Der große Unterschied besteht natürlich darin, dass die Kinder die Schule, das Lernen als „Beruf“ haben, die Erwachsenen aber beim (Sprachen-)Lernen viel stärker immer nur die Defizite sehen, sprich: was sie noch nicht können. Das Lernen konkurriert mit ihren anderen Tätigkeiten im Leben um Zeit. Vor allem mit einigen Frauen wurde über längere Zeit Deutsch gelernt. Der Erfolg hängt dabei natürlich stark von der Vorbildung der Frauen ab: Vier Jahre Schulbesuch oder Hochschulzugang, das macht, bei gleicher Lebenstüchtigkeit, einen sehr großen Unterschied im „schulischen“ Lernen.
Das gemeinsame Lernen konnte mit der Eröffnung des Frauencafés durch Naschmil Khaleh erweitert werden. Die Frauen treffen sich hier zwanglos zum Reden, Nähen, Kaffee trinken und haben die Möglichkeit, sich niederschwellig mit der deutschen Sprache zu beschäftigen. Da im Raum nur jeweils fünf Personen sein dürfen, bietet die Flüchtlingsinitiative hier an, dass interessierte Frauen, die gerade nicht Nähen wollen, eine Basis an Deutschkenntnissen erwerben können.
BV: Was war denn für Sie ganz persönlich neben der Wahrnehmung der kleinen wie größeren Lernerfolge einzelner Kinder und Erwachsener ein Highlight Ihrer Arbeit?
Im August fand an der Unterkunft ein Sommerfest statt. Organisiert wurde es von den Bewohnern*innen selbst. Natürlich standen Musik, Tanz und Gespräche im Vordergrund, kulinarisch umrahmt von Grillspezialitäten, Salaten und anderen Köstlichkeiten der arabischen und afrikanischen Küche. Und auch die sehnsüchtig erwartete bunte Torte fehlte nicht. Die Unterkunft glich einem großen Dorf, das ein Freudenfest feiert. Dazu beigetragen hat auch die immer gute Zusammenarbeit mit Sozialdienst, Hausmeistern und Security.
Wir sind jetzt seit genau 5 Jahren in der Unterkunft tätig. Manchmal fragen wir uns, welchen Nutzen unsere Tätigkeit hat. Aber nach Beantwortung ihrer Fragen blicke ich optimistisch auf unser Tun. Ich denke, man kann sagen, die Bewohnerinnen und Bewohner sehen uns als Teil ihres „Dorfes“.
BV: Wie wird es mit der Flüchtlingsinitiative weitergehen? Welche Pläne gibt es für das nächste Jahr und darüber hinaus?
Soweit wir es überblicken, ist unsere Lernunterstützung bei den Kindern und Jugendlichen durchaus hilfreich und wir werden unser Angebot weiterentwickeln. Dazu suchen wir immer wieder Menschen, die uns bei unserer Arbeit unterstützen. Dass immer mehr Bewohner*innen eine Beschäftigung haben und in Wohnungen umziehen, hat auch Auswirkungen auf uns, da nur wenige neue Kinder dazukommen. Ein Schritt in die Zukunft könnte sein, dass wir nicht nur Kinder und Jugendliche aus der Unterkunft, sondern auch aus dem Quartier unterstützen. Dieses Modell muss aber noch mit der Stadt und der Nachbarschaft entwickelt werden.
Die Arbeit mit den Erwachsenen muss auf einer anderen Basis geschehen. Hier kommt es auf die individuelle Motivation an. Wir beobachten, dass nur wer sich hier auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten einlässt, auch in der Lage ist, zielgerichtete Unterstützung zu holen. Eine allgemeine Unterstützung bei der Regelung des Lebens hier in Deutschland sehe ich nicht als notwendig, da die meisten Geflüchteten schon seit Jahren hier leben und in ihrem Bereich meist sehr genau wissen, wie sie leben wollen. Bei konkreten Anfragen sind wir gerne bereit, Unterstützung zu leisten oder zu vermitteln.
Die Arbeit in der Unterkunft, die Erfahrungen, die wir dabei machen, sind immer anregend und bereichernd. Dies gilt sowohl für die Begegnung mit den Geflüchteten als auch für den Austausch und das Miteinander im Kreis der zahlreichen engagierten Helferinnen und Helfer.
Mit Karl-Hans Jauß sprach Loretta Lorenz