Es war im Sommer 2004 als plötzlich im Zimmer meines Sohnes einige leere Spraydosen herumlagen.

Ich erinnere mich noch sehr gut an meine Erleichterung, als sich herausstellte, dass diese nicht das Arbeitswerkzeug eines angehenden Graffitikünstlers waren, sondern dass Sohnemann mit seinen Freunden damit unserem Holbeinpferdchen den ihrer Meinung nach längst fälligen Besuch abgestattet hatten; mitternächtlich und Schmiere stehend, weil den Schülern schon deuchte, dass das Anmalen nicht ganz legal war. Umso überzeugter pochten die angehenden Abiturienten dann, zur Rede gestellt, ihren besorgten Eltern gegenüber auf eine Art von Gewohnheitsrecht: Das machen doch alle, und das schon seit vielen Jahren, und das wüssten Wiehremer Eltern auch ganz genau! Immerhin hätten wir unsere Kinder über Jahre hinweg nur mit dem Versprechen, beim meist originell bemalten Holbeinpferd vorbeizugucken, zum langweiligen Sonntagsspaziergang vor die Tür bekommen. Als letzte argumentative Trumpfkarte wurde dann noch oben drauf gesetzt, dass gerade durch diese frühen Kindheitserinnerungen der einmalige Akt der Bemalung ein geradezu
Identität stiftendes Ritual und damit verpflichtend für jedes Wiehremer Bobbele sei. Was sollte man dazu noch sagen?

Das ständig wechselnde Aussehen unseres Pferdchens hat zum Bekanntheitsgrad der Wiehre regional wie überregional durchaus beigetragen. Die alljährlich aus England anreisenden Enkelkinder meiner Nachbarin z.B. stellten jahrelang ihre Koffer schnell nur im Hausflur ab, um noch vor der Inbeschlagnahme durch die Großmutter nach dem neuesten Outfit des Pferdchens zu sehen. Auch in viele Regio- und Freiburgführer sowie auf Wikipedia hat es unser Pferdle geschafft und ist damit zu einem der beliebtesten Freiburger Fotomotive für Touristen geworden. Wie viele andere deutsche Städte verfügen über ein solch bekanntes inoffizielles Wahrzeichen, das einzig von der Kreativität und Ideenvielfalt seiner Bürger lebt? Die Stadt Freiburg, Eigentümerin des Pferdchens, wäre schlecht beraten, wenn sie nach der notwendig gewordenen Verschlankung des Pferdchens nunmehr verbieten und ahnden wollte, was sie seit Mitte der 70er Jahre geduldet hat.

Nun gut, klar ist nach den ersten neuen Farbschichten schon jetzt, dass die nächste Lymphdrainage für das Holbeinpferdchen irgendwann wieder ansteht. Vielleicht wäre das
Aufstellen eines Spendenkästchens eine Idee, in welches Bewunderer und „Künstler“ ihren Beitrag zur Erhaltung der Skulptur leisten könnten. Was auf Blumen- und Erdbeerfeldern zu klappen scheint, funktioniert vielleicht auch hier. Eine weitere Zunahme ständig wechselnder Fohlenoutfits steht mit einer solchen Maßnahme eher nicht zu befürchten: eine Bemalung wäre damit dann auch offiziell gebilligt und die Kunstaktion am Holbeinpferd kaum mehr konspirativ und mit Nervenkitzel verbunden wie früher – was manche anonymen Maler wohl von einer Neugestaltung des Pferdchens abhielte.

Hingegen würde es sicher einige geben, die zukünftig bereit wären für ihre sozialkritische oder politische oder auch sehr persönliche private Botschaft an die Welt einen Obolus zu entrichten. Einen Versuch wär’s doch wert.

Loretta Lorenz